Wiebke Worm

So, heute gibt es von mir mal etwas, was ich bisher noch nie gemacht habe. Ein sogenanntes 'cross over'. Ich habe eine Protagonistin aus einer meiner Geschichten genommen und diese mit einem Protagonisten eines anderen Autors verknüpft. Diese Minigeschichte kann für sich stehen, sie kann aber auch (hoffentlich) neugierig machen, auf unser beider Geschichten.
Wie ich darauf gekommen bin? Ganz einfach. Neal Skye, hat ein in meinen Augen super tolles Buch geschrieben und ich war in diesem Jahr hinter einem Adventskalendertürchen von ihm versteckt. Hinter den anderen Türchen hatten sich tlw cross over Geschichten versteckt und ich fand das spannend. Wer mich kennt, weiss, dass mich neue Dinge reizen, so auch das. So viel zu lange Vorgeschichte und jetzt geht es endlich los.

Ich würde mich über Rückmeldungen dazu freuen.

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("Anne" aus Annes Rache - veröffentlicht bei Karin Bielas Apollon Tempel Verlag in der ersten Anthologie "Frauen schreiben wundervoll - und "Rich" aus Rich & Mysterious - Der Niagara-Fall - veröffentlicht als Einzelbuch von Neal Skye)

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Anne saß nachdenklich am Grab ihrer Tochter. Sie hätte sich frei fühlen müssen, denn all ihre Pläne waren aufgegangen. Tatsache aber war, dass sie eine totale innere Leere empfand.
Sie schaute auf das Bild ihrer Tochter, welches den Grabstein zierte. Ihr Sonnenschein, immer lächelnd und fröhlich, sogar, als sie sehr krank war. Noch am letzten Tag hatte ihr sterbendes Kind seine Hand an ihre Wange gelegt, als ob es ihr Kraft geben wollte für alles, was danach kam.
Ohne dass sie etwas dagegen machen konnte, wurde Anne gedanklich mit voller Wucht zu dem Tag geschleudert, der alles verändern sollte.

»Schwester, kommen sie schnell, hier stimmt was nicht!« Schrill klang Annes Stimme vom Krankenbett ihrer Tochter. Panisch riss sie ihr Kind hoch, dieses rang um Luft, seine Lippen waren fast blau und das kleine, geliebte Gesicht knallrot. »Schhht, keine Angst, meine Kleine, hol Luft, atme, Mami ist bei dir.« … »Schwester, wo bleiben sie?« … »Atme, komm schon, bitte!« Anne klopfte ihrer Tochter auf den Rücken. Diese wurde auf einmal ganz ruhig, hob unter Anstrengung ihren kleinen Arm, legte die Hand direkt auf Annes Gesicht. Sekunden später sackte der Arm herunter, der ganze Körper entspannte sich und Anne fing an zu schreien. Sie hörte hektisches Schritte auf dem Flur, eine ihr unbekannte Schwester lief an ihr vorbei und versuchte, Anne ihr Kind aus dem Arm zu nehmen. Anne hielt den kleinen Körper fest umschlungen und schluchzte nur noch verzweifelter.
Stimmen auf dem Flur, hektisches Getuschel, Wortfetzen. Anne nahm alles auf und auch wieder nichts.
»Der Doktor hat doch gesagt, ich soll es ihr geben.«
»Bist du verrückt?«
»Leiser, wenn dich jemand hört.«
»Aber …«
»Achtung, da kommt der Arzt.«
»Herr Doktor, sie haben mir doch gesagt …«
»Nicht jetzt!«
»Aber …«
»Ruhe!«
Eine schneidende Stimme, ein imposanter Mann, der den Raum betrat, sich vorstellte. Ebersirgendwas, wieder rauschte alles an Anne vorbei. Sie konnte nicht begreifen, was soeben passiert war. Gerade noch hatte es so ausgesehen, als ob ihre Tochter endlich bald nach Hause kommen könnte. Sie hatten miteinander herumgealbert, jetzt war Anne allein. Eine Spritze, die Tage verschwammen. Trauer. Unendliche Trauer. Das Gefühl der kleinen Hand auf ihrer Wange hatte sich Anne eingebrannt. Irgendwann schlug die Trauer um in Wut und Hass. Der Nebel des letzten Tages fing an, sich zu lichten, die Gesprächsfetzen flogen in Annes Kopf herum. Wurden klarer und klarer. Immer wieder ging sie zur Klinik, die Schwester, die an ihrem Unglückstag Dienst hatte, fand sie jedoch nicht. Dafür erfuhr sie den Namen vom Arzt. Dr. Ebershofer.

Anne fröstelte und schaute sich erstaunt um, die Dämmerung war hereingebrochen. Diesmal hatte der ungewollte Ausflug in die Vergangenheit länger gedauert als sonst. Ihr war kalt, ihr Gesicht nass. Sie stand auf und wischte sich mit dem Ärmel ihres Mantels über die Wangen. Anne zündete die Grabkerze an. Ein sanftes Licht erleuchtete das Foto mit dem lächelnden Kindergesicht. Zögernd machte sich Anne auf den Weg zum Ausgang, drehte sich noch einmal zum Grabstein und sagte: »Mami kommt wieder, versprochen. Sie weiß nur noch nicht so genau wann. Du bist in ihrem Herzen! Immer.«

~~

Müde und verfroren saß Anne in der Wartehalle im Flughafen. Ihr Gepäck war schon eingecheckt und sie wartete auf den Aufruf, dass es endlich losgehen konnte. Neben ihr stand ein Mann auf und verschwand mit schnellen Schritten. Auf seinem Platz lag die Tageszeitung. Das Titelbild sprang Anne sofort ins Auge. Rich. Älter zwar, aber unverkennbar er. Sie ergriff das Papier und las gebannt den Artikel über eine erfolgreiche Festnahme, bei der er federführend mitgearbeitet hatte. War das jetzt ein Zufall? So viele Jahre hatte sie nicht an ihn gedacht und heute, auf dem Weg in ein neues Leben, strahlte er sie vom Bild aus an.

Wieder gingen Annes Gedanken zurück in die Vergangenheit.

Es war laut in der Kneipe. Anne war total verzweifelt und hatte sich vorgenommen, sich so richtig vollaufen zu lassen. Den Schmerz wegzutrinken. Saufen, bis zu Besinnungslosigkeit. Das hatte sie noch nie gemacht, aber davon gehört. Es tat einfach zu weh. Die letzten Minuten im Leben ihrer Tochter hatten sich auf ihre Netzhaut gebrannt, sie fühlte auf ihrer Wange noch die Hand ihres kleinen Mädchens, die sie doch nie wieder fühlen würde. »Noch einen Whiskey.« Sie nickte dem Barkeeper zu und dann gleich noch einmal, wie für sich selbst zur Bestätigung. Ja, trinken bis zur Besinnungslosigkeit. Vergessen können und sei es nur kurz. Ihre Tochter, nie wieder. Anne trank das neue Glas mit einem Zug aus. Verschluckte sich, hustete und fing gleichzeitig an zu weinen.
»Noch einen …«
»Ich glaube, die Dame hat genug.«
Eine Hand legte sich fast zart auf ihren Rücken, sie spürte, wie sich ihre Muskulatur anspannte. Wütend drehte sie ihren Kopf und schaute … in die intensivsten Augen seit langer Zeit. Sie schluckte ihren angefangenen wütenden Satz herunter.
»Stimmts? Es reicht mit dem Alkohol, trinken sie einen Kaffee mit mir?«
Anne nickte fast willenlos. Der ungewohnte Whiskey pulsierte in ihren Adern und durch die Bewegung wurde ihr spontan schlecht. So schnell sie konnte raste sie von der Bar zur Toilette. Sie kotzte, wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Hatte das Gefühl zu sterben und merkte, dass sie doch noch leben wollte. Trotz allem. Endlich fertig wusch sie sich ihr Gesicht und schaute sich genau in die Augen. Kurz konnte sie vor ihrem inneren Auge sehen, was soeben von dem Mann an der Theke verhindert worden war. Ein Gefühl von Dankbarkeit durchflutete kurz ihren Körper. Sie trocknete sich ab, richtete sich ein wenig her und ging zurück. Er saß noch genau dort, wo sie ihn verlassen hatte und lächelte ihr entgegen. »Ich bin Rich, hier ist ein Kaffee und jetzt erzähl mir, was dich so bedrückt.« Obwohl sie ihn nicht kannte, floss ihre ganze Trauer aus ihr heraus und Rich hörte zu. Sie berichtete von ihren Zweifeln und den verzweifelten Versuchen, die Polizei davon zu überzeugen, dass Dr. Ebershofer ein skrupelloser Mörder sei.

Tage später, sie und Rich hatten sich nach der ersten Begegnung noch öfters getroffen, erzählte Rich ihr, dass er versuchen würde, alles über diesen Arzt herauszufinden. Stück für Stück nahm er im Laufe der nächsten Wochen das Leben von Dr. Ebershofer auseinander und sie sog dankbar jedes Detail in sich ein. Rich beförderte immer mehr grausige Einzelheiten an die Oberfläche, aber der Arzt war vorsichtig und nichts von all dem, was er fand, konnte gegen Dr. Ebershofer verwendet werden. Inzwischen war Rich die Karriereleiter steil bergauf gestiegen und konnte nicht mehr all zu viel Zeit in die private Suche weiterer Fakten investieren. Anne entwickelte einen Plan und da sie Rich dankbar war und nicht behindern wollte auf seinem weiteren Weg, zog sie kurzentschlossen in eine andere Stadt und brach alle Zelte hinter sich ab. Sie brauchte jetzt Zeit für sich und einen klaren Kopf, damit sie ihren Plan in aller Ruhe umsetzen konnte. Und wenn sie eines hatte, dann war es Zeit.

»Entschuldigung, ich glaube, das ist meine Zeitschrift.« Eine tiefe Stimme holte sie schlagartig aus der Vergangenheit zurück.
»Ich muss mich entschuldigen, ich dachte, sie wären einfach so verschwunden. Hier.«
Sie hatte kaum ausgesprochen, als ihre Flugnummer zum check in aufgerufen wurde. Anne stand auf, und machte sich auf den Weg.
»Kein Problem, danke und einen schönen Tag wünsche ich.« Hörte sie die Stimme noch sagen.
>Eher ein schönes Leben, hoffentlich<, dachte Anne, als sie ihre Boardingcard vorzeigte.


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